«Sogar durch den Pausenhof zog sich eine hohe Chinesische Mauer»

In einem Interview vor seiner Pensionierung hat der damalige Leiter Volksschulen im Erziehungsdepartement, Pierre Felder, gesagt, es sei nicht unmöglich, dass er die Basler Schulgeschichte einmal aufarbeiten werde. Das hat er nun tatsächlich auch gemacht. Das Werk «Für alle! Die Basler Volksschule seit ihren Anfängen» blickt auf über 300 Seiten zurück bis ins 17. Jahrhundert und ist eine spannende Zeitreise.

Bild: Mädchenprimarklasse 1892 im St. Johann
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Mädchenprimarklasse 1892 im St. Johann Foto: Schweizerisches Nationalmuseum Zürich

Pierre Felder, war die Basler Volksschule tatsächlich immer für alle?
Diesem Anspruch wurde sie anfangs nicht gerecht. Kinder aus ärmeren Familien blieben häufig zu Hause, weil die Eltern das Schulgeld nicht aufbrachten oder auf deren Arbeitskraft angewiesen waren. Söhne und Töchter aus besserer Familie wurden teilweise vor dem Besuch der höheren Standesschulen von einem Privatlehrer unterrichtet, weil man sie keinen verderblichen Einflüssen aussetzen wollte. Mädchenbildung galt vielen als unnötig, deswegen wurden für sie nur halb so viele Klassen geführt wie für Knaben. Schliesslich wurde jenen Kindern die Schulbildung verweigert, die in den Augen der Pfarrer «nicht bildungsfähig» waren.

Wie sah der Schulalltag am Anfang der Volksschule aus?
Nach dem Eingangsgebet verlief jeder Schultag gleich. In bis zu hundertköpfigen Klassen waren Anfänger, Fortgeschrittene und Zurückgestellte bunt gemischt. Jedes Kind wurde vom Schulmeister einzeln «verhört» und anschliessend zum Auswendiglernen auf einen der langen Bänke zurückgeschickt. Im überfüllten Raum summte es wie in einem Bienenhaus. Im 19. Jahrhundert stellte die Schule nach und nach auf frontalen Unterricht in Jahrgangsklassen um. Fortan hatten alle den Blick nach vorn zu richten.

Zu den grössten Herausforderungen gehörte über die Jahrhunderte die Integration – wie ist man früher damit umgegangen?
Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts, als die Bevölkerung sich vervierfachte und immer mehr katholische Familien in der Stadt Arbeit und Wohnung suchten, wurden deren Kinder durch die verfügte Schliessung der katholischen Schule in die öffentliche Schule gezwungen. Diese verlor nach und nach ihre evangelische Ausrichtung. Zum spannungsreichen Integrationsprozess gehörte auch die Vermittlung bürgerlicher Familienwerte und Hygienevorstellungen in den Schulen der Arbeiterviertel. Fremdsprachige gab es nur wenige, noch 1929 war die Schule nicht verpflichtet, sie aufzunehmen. Fünfzig Jahre später wurde die sprachliche Integration von Migrantenkindern zu einer der wichtigsten Aufgaben der Lehrpersonen.

Die Geschlechtertrennung an der Primarschule wurde erst 1958 aufgehoben – wie verlief dieser Prozess?
Noch heute haben die Volksschulpaläste der vorigen Jahrhundertwende zwei Eingangsportale. Mädchen und Knaben wurden damals in zwei durchgängig getrennten Gebäudeflügeln von getrennten Lehrkörpern unterrichtet – ungleich, denn auf Kosten der wissenschaftlichen Fächer wurden die Mädchen zusätzlich in «weiblichen Arbeiten» instruiert. Sogar durch den Pausenhof zog sich eine hohe Chinesische Mauer. Erst nach zehn Versuchsjahren traute man sich an die Koedukation.

Welches sind aus Ihrer Sicht Meilensteine in der Basler Schulgeschichte?
Nach 1817 setzte der Aufklärer Peter Ochs durch, dass den Abc-Schützen statt bloss ein wenig Lesen und Gehorsam gegen Gott und Obrigkeit Kulturtechniken und Realien beigebracht wurden; statt Theologen unterrichteten Pädagogen. Nach 1880 fügte der Aufsteiger Wilhelm Klein als erster Erziehungsdirektor aus lauter Einzelschulen ein in Altersstufen gegliedertes, effizientes Schulsystem zusammen, dessen Besuch unentgeltlich wurde. Nach 1988 erstritt der Grosse Rat gegen den reformunwilligen Regierungsrat die Verlängerung des gemeinsamen Unterrichts für alle zur Verbesserung der Bildungschancen.

Welche Haupterkenntnis haben Sie gewonnen?
Schule und Stadtgeschichte sind eng ineinander verzahnt. Ohne die Leistungen der Volksschule wäre der Wandel der Kleinstadt zur demokratischen Industriestadt nicht möglich gewesen.

Hinweise:

Interview: Jakob Gubler aus dem Personalmagazin BS intern, Nr. 241/2019. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.

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